Potenzialentfaltung oder Selbstoptimierung? Das ist hier die Frage
Wir wandern heute oft auf einem schmalen Grat zwischen der Entfaltung des eigenen, natürlichen Potenzials und dem Versuch, ein aus fehlendem Selbstwert genährtes Ideal zu erfüllen. Der Schlüssel zur gesunden Potenzialentfaltung liegt in der Unterscheidung zwischen Beidem und der Bereitschaft, Neid und Vergleiche mit Anderen zugunsten eines „Ja“ zur eigenen Authentizität zu opfern.
Ich habe ein natürliches Talent, Menschen nachzuahmen. Ein indischer Akzent? Kein Problem. Die Gangart meiner Freundin Maria? Easy. Damit kann ich an einem geselligen Abend auch schon mal die Stimmung aufhellen. Andererseits habe mit diesem Talent unbewusst nicht nur imitiert, sondern bewundernswerte Menschen „zu werden“ versucht – mehr als einmal. Als mir eines Tages durch ein mitfühlendes Feedback meines Freundes und Kollegen John bewusstwurde, wieviel Energie ich in den Nachahmungsversuch gesteckt hatte, anstatt mein eigenes Potenzial zu leben, ging es mir richtig schlecht. Ich konnte einfach nicht glauben, wie ich nach so vielen Jahren Persönlichkeitsentwicklung so unaufmerksam und unbewusst unterwegs sein konnte.
Was mir dabei von einem auf den anderen Moment klar wurde: Du lebst nur einmal. Das Nachahmen Anderer ist eine Maske, hinter der Du Dich selbst verbirgst. Masken brauchen richtig viel Energie, und die brauche ich für mich selbst! Ich entschied mich an demselben Tag für mich selbst und begann zu forschen, wie ich angesichts aller inneren und mediengesteuerten Ideal-Ansprüche – von Körper zu Persönlichkeit und „Mindset“ zu Lebensstil –, zum eigenen authentischen Selbst stehen kann.
Aber wie geht das: zum authentischen Selbst stehen?
Eine Selbstoptimierung, die nicht auf Basis der eigenen Potenziale basiert und unbewusst darauf zielt, irgendwelche Ansprüche zu erfüllen, nährt Neid. Wir vergleichen uns mit Anderen und machen (oft falsche) Annahmen über das Innenleben dieser Anderen (meist geht es ihnen in unserer Fantasie besser und sie sind selbstbewusster als sie es in Wahrheit sind). Wer sich selbst nicht mag, nicht akzeptieren kann, der leidet. Der Selbstoptimierungswahn ist oft ein Versuch, dieses unangenehme Gefühl zu kompensieren. Das ist sehr ungesund. Wenn ich von „Selbstoptimierungswahn“ spreche, dann meine ich eine Tendenz des ständigen Versuchs, einem Anspruch gerecht zu werden.
Wir schauen dann täglich in den Spiegel und vergleichen uns mit den Körpern, die die Medien uns als Ideal zeigen, probieren dazu vergeblich eine oder mehrere von hunderten verschiedener Angebote an Diäten oder Sport- und Fitnessmethoden; wir versuchen, gute Eltern zu sein, besuchen dafür auch irgendwelche Kurse, lernen auf der Arbeit, welcher Anspruch an digitale Kompetenzen gerade gilt, nutzen die sozialen Medien exzessiv und versuchen den Konsum gleichzeitig zu reduzieren; versuchen ein gesundes soziales Leben zu pflegen; und das alles macht einen Riesenstress, zu dessen Bewältigung wir nun obendrauf Kurse in Yoga und Achtsamkeit besuchen. Und dann wundern wir uns, wenn es alles noch schlimmer wird. Und verurteilen uns dafür wieder. Ach, und beinahe hätte ich es vergessen: wir finden, dass wir einen Kurs in Sex buchen sollten, weil wir da auch nicht anspruchsgerecht performen.
Wie kommen wir aus dieser Mentalität raus?
Du Selbst Sein lohnt sich – und dafür Arbeiten auch!